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Title
Moskaus Fenster zur Welt. Die Nachrichtenagentur TASS und die Auslandsberichterstattung in der Sowjetunion, 1918–1941


Author(s)
Schejngeit, Alexander Ruslan
Series
Beiträge zur Geschichte Osteuropas (54)
Published
Köln 2021: Böhlau Verlag
Extent
276 S.
Price
€ 39,99
Reviewed for H-Soz-Kult by
Markus Mirschel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In der Forschungslandschaft zur sowjetischen Geschichte sind in den letzten Jahren wichtige Lücken geschlossen worden – konjunkturbedingt lag der Fokus auf der Umwelt- und Katastrophengeschichte, sicherheits- und energiepolitischen Fragen sowie Aspekten der postsowjetischen Transformation. Die Arbeit von Alexander R. Schejngeit widmet sich der bis heute wenig erforschten Geschichte der sowjetischen Nachrichten- und Bilderschmiede schlechthin: der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS (Telegrafnoe agentstvo Sovetskogo Sojuza). Die Arbeit fasst hierbei die Jahre 1918 bis 1941 ins Auge und beschreibt die Geschichte dieser Institution als einen intensiven politischen Aushandlungsprozess. Der Autor fördert wichtige Erkenntnisse zu den ausgetragenen Macht- und Etablierungskämpfen zwischen der TASS, einer neu orientierten Außenpolitik und der Kreml-Nomenklatura zu Tage. Ferner gibt die Untersuchung Einblicke in jene journalistischen Prozesse, die das kollektive Gedächtnis einer sowjetisch sozialisierten Gesellschaft bis heute prägen.

Schejngeit befasst sich in seiner an der Universität Konstanz eingereichten Dissertation mit jenen Feldern, welche die TASS zu „Moskaus Fenster zur Welt“ machten. Eine maximale „Aufmerksamkeitsgeografie“ (S. 56) stand in den Gründungsjahren 1925 bis 1929 jener dichotomen Weltordnung entgegen, welche unter den späteren Bedingungen des Kalten Krieges zum Fokus der Agentur werden sollte. Die TASS war maßgeblich an der Codierung der Welt beteiligt und demnach einer jener Akteure, welche der „sowjetischen Wirklichkeit“ von Beginn an ein mediales Gesicht gaben. Dabei unterzieht der Autor besonders der Auslandsberichterstattung eine tiefgreifende Untersuchung. Das Mysterium der frühen TASS wird im Spiegel einer äußerst umfänglichen Quellenarbeit beleuchtet. Damit hebt sich Schejngeits Studie von den wenigen und teils stark veralteten Arbeiten ab, die sich oft nur fragmentarisch mit der Gesamtinstitution TASS, ihrer Genese und noch weniger mit der Auslandsabteilung INO-TASS befassten.1 Das maßgebliche Verdienst des Autors ist es, einen Weg durch das aktenstarke Archivmaterial der sowjetischen Telegrafenagentur im Staatsarchiv der Russländischen Föderation (GARF) geschlagen zu haben. Allein an den Konvoluten der verantwortlichen Leiter der TASS (Jakow Dolezkij, bis 1937; Jakow Chawinson, bis 1943) wird deutlich, wie signifikant sich die Kommunikations- und Entscheidungsprozesse im Zuge der Entwicklung des stalinistischen Führerkultes veränderten.

Der Autor erschließt seine Untersuchung mit sozialwissenschaftlichen Werkzeugen. Jenem Leser, der eine dichte Erzählung von Ereignissen erwartet, sei gesagt, dass er diese nicht finden wird. Gerade in der interdisziplinären Erschließung liegt der Mehrwert der Abhandlung. Der Autor bedient sich einer komplexen Matrix, welche sich aus Akteurskonstellationen, einem vom Politikwissenschaftler Kai Hafez übernommenen dreistufigen Modell aus Mikro-, Meso- und Makroebene sowie historischen Zäsuren zusammensetzt.2 An den Auslandsjournalisten und Redakteuren werden individuelle Werte, Sozialisation und Konflikte beleuchtet. Auf der mittleren Ebene greift der Autor die Aushandlungsprozesse und das gegenseitige Zusammenspiel auf. Abschließend finden die Adressaten des Auslandsbildes Berücksichtigung: An der Spitze steht hierbei die Frage des Rezeptionsverhaltens Stalins selbst.

Im ersten Abschnitt untersucht der Autor die INO-TASS, ihr Personal und ihre Position im sowjetischen Informationssystem. Es wird deutlich, dass die institutionellen Grundlagen der frühen Auslandsberichterstattung maßgeblich durch einen Dualismus aus journalistischer Expertise und außenpolitischem Kalkül gelegt wurden. Ein leistungsstarker Auslandsapparat ließ Spezialisten zu, deren Einschätzungen von der TASS-Führung, dem Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten (NKID) sowie den politischen Entscheidungsträger der UdSSR geschätzt wurden (S. 86). Der Autor arbeitet heraus, dass es im Besonderen der INO-TASS gelang, den stalinistischen Mobilisierungsdiskurs zunächst nicht zu übernehmen und sich zumindest vorübergehend vom Massenjournalismus der sowjetischen Presse abzugrenzen. Dolezkij sprach sich als Leiter der TASS dezidiert gegen eine politische Etikettierung des Journalismus und gegen „Täuschen, Verzerren, Verfälschen und Erfinden“ aus (S. 79). Diese Position unterstreicht die Sonderstellung der TASS, deren Mitarbeiter zunächst mehrheitlich aus dem bürgerlichen Milieu der alten Eliten kamen.

Die Jahre 1937 und 1938 markierten eine tiefgreifende Zäsur. Im Wechselspiel aus Isolationismus und stalinistischer Paranoia wurde die INO-TASS ihrer restlichen Fähigkeit beraubt, Informationen möglichst unvoreingenommen zu generieren und das Bild der UdSSR nach der anfänglich angeführten „Aufmerksamkeitsgeografie“ breit zu streuen – eine Entwicklung, welche sich im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges als fatal herausstellen sollte. Die Parteiführung hatte ein Einhegen der Korrespondenten schon ab 1929 angestrebt: Es galt das „Social Engineering“ (S. 116) so zu gestalten, dass politische Loyalität vor journalistischer Kompetenz rangierte. Zwar stand das Gros der „alten Garde“ an Auslandsjournalisten nicht in Gegnerschaft zum sowjetischen Wertehimmel, doch vertraten sie das mitunter unerwünschte Selbstbild kritischer Beobachter der sie umgebenden Welt.

Auch wenn die TASS und das NKID die repressive Personalpolitik sowie den Primat ideologischer Makellosigkeit nicht bedingungslos hinnahmen, bedeuteten die Jahre des „Großen Terrors“ das Ende eines funktionierenden Netzwerkes der Auslandsberichterstattung. Die meisten Auslandbüros der TASS schlossen im Sommer und Herbst 1937. Dolezkij, der die TASS mit Autorität, aber weniger autoritär als sein Nachfolger Chawinson geführt hatte, beging im Juni 1937 Selbstmord. Chawinson hatte es mit Rückendeckung Stalins geschafft, der TASS einen „lebendigen bolschewistischen Geist“ einzuhauchen, der im Fahrwasser des „Großen Terrors“ die journalistische Professionalität ablöste.

Der vom Autor untersuchte Einfluss Stalins wirkte etwa über die redaktionelle Lenkung der Zeitungen Prawda und Iswestija auch indirekt auf die TASS. Die Agentur war durch fehlende Anbindung an den Informationsfluss aus dem Kreml auf eine reflektierende Lektüre der Massenpresse angewiesen. Diskursive Reflexionen verhalfen der Nachrichtenagentur, die Stimmungslage im Machtzentrum zu interpretieren: ein Phänomen, welches die Medienlandschaft der UdSSR durchgängig prägte.3 Eine fehlende direkte Beeinflussung durch Stalin interpretiert der Autor dadurch, dass der Diktator die „TASS primär als Informationsmedium und nicht als Instrument zur Beeinflussung und Erziehung der Masse‘“, gesehen habe (S. 173). Schejngeits Einschätzung lässt Stalins Vorgehen gegen die TASS als grotesk erscheinen, nutzte er sie doch selbst als Informationsquelle. Dass Stalin das prinzipielle Privileg hatte, die Welt nach seinen Vorstellungen zu beschreiben, legt der Autor plausibel dar.

Schejngeit nutzt zur Analyse der stalinschen Rezeption der Auslandsberichterstattung zum einen die Urlaubskorrespondenz des Diktators aus den Jahren 1931 bis 1936 und zum anderen die im Privatarchiv Stalins überlieferten Auslandsbulletins der TASS. Über die persönlichen Zeichen der Lektüre kann sein Umgang mit Informationen aufgezeigt werden. Dennoch muss die Frage offenbleiben, inwieweit die täglich an Stalin versandten Bulletins auch dessen außenpolitische Entscheidungsprozesse beeinflussten. Der Autor deutet sie als „Initialzündungen“, die „die Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen und Personen lenkten“ (S. 181).

Mit Blick auf den Stellenwert der Agentur bleibt erstaunlich, wie wenig die TASS und die INO-TASS bis heute über wissenschaftliche Studien erschlossen wurden. Am untersuchten Dreigestirn aus Korrespondenten, Diplomaten und politischer Nomenklatur der Jahre bis zum „Großen Vaterländischen Krieg“ zeigt Schejngeit, dass Gestaltungsfreiräume in der stalinistischen Sowjetunion zumeist eine Frage der Akteurskonstellation blieben. Dass die Spielräume mit der zunehmenden Zentralisierung der jungen UdSSR abnahmen, verdeutlicht der Autor am Beispiel der Institutionsgeschichte der TASS. Die Redakteure im Ausland entwickelten sich von Spezialisten mit Auslandsexpertise zu „Systemfremden“ (S. 245). In den Jahren des „Großen Terrors“ wurde die Ferne zu Moskau zu einem häufigen Todesurteil. Personalrochaden in der Führung der TASS von Dolezkij zu Chawinson verdeutlichen zudem, wie sehr die sowjetische Politik immer stärker vom Zugang zu Stalin abhing. Für die TASS hieß das die Abkehr vom Anspruch journalistischer Grundpositionen wie Genauigkeit gegenüber den Fakten und Objektivität.

Die Sicht des Autors auf den Forschungsgegenstand sowie die Aufbereitung der Ergebnisse ist erfrischend. Die Vielzahl an Grafiken ist selten losgelöst vom immensen Faktenreichtum der Arbeit. Mitunter wird dem Historiker zwar einiges abverlangt, will er der soziologisch und journalistisch geprägten Themenmatrix folgen – doch der Aufbau der Untersuchung erscheint als ein probates Mittel, den Fragen nach Rezeption, Handlungsspielräumen und Interaktionen der Akteure gerecht zu werden. Leider schleichen sich über die Seiten einige Redundanzen und Widersprüchlichkeiten ein, die aber an der Qualität dieser quellengesättigten Pionierarbeit nur wenig ändern. Schejngeit liefert den nötigen Impuls, die Nachrichtenagentur TASS in weiteren Facetten historisch aufzuarbeiten und somit das mediale Weltbild der Sowjetunion noch weiter zu dechiffrieren.

Anmerkungen:
1 Etwa Theodor Kruglak, The Two Faces of TASS, Minneapolis 1962 und Matthew Lenoe, Closer to the Masses: Stalinist Culture, Social Revolution, and Soviet Newspaper, Cambridge, Mass. 2004.
2 Kai Hafez, Die politische Dimension der Auslandsberichterstattung, Bd. 1: Theoretische Grundlagen, Baden-Baden 2002.
3 Rosemarie Rogers, How Russians Read Their Press, Patterns of Selection in Pravda and Izvestia, Cambridge 1968, S. 1–2; Pekka Roisko, Gralshüter eines untergehenden Systems, Zensur der Massenmedien in der UdSSR, 1981–1991, Wien 2015, S. 45–46.

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